✎ geschrieben von Stephan am 2024-02-18 12:44:09
Der 8. Februar 2024 war für mich als Filmfreund ein wichtiger Wendepunkt. Über Jahre hinweg habe ich immer den Anime Niklaas, der Junge aus Flandern als meinen absoluten Lieblingsfilm genannt, doch dieser wurde nun durch Wochenendrebellen vom Thron gestoßen. Ja, es wurde auf Anhieb mein neuer absoluter Lieblingsfilm! Obwohl ... kann ich das schon so einfach entscheiden, obwohl ich noch gar nicht alle Filme gesehen habe, die es auf der Welt gibt?
Wochenendrebellen kam im September 2023 in die Kinos, und da hatte ich bereits vor, ihn mir anzuschauen, habe es aber aus verschiedenen persönlichen Gründen zeitlich nicht ins Kino geschafft. Stattdessen bestellte ich mir zeitnah die Blu-ray vor, welche dann am 8. Februar 2024 geliefert wurde - dank schneller Post sogar einen Tag vor offiziellem Release! Noch am selben Abend - es war ein Donnerstag - schaute ich mir Wochenendrebellen zum ersten Mal an, und ... ich war geflasht! Nein, man kann es nicht anders nennen! Übers Wochenende schaute ich mir den Film direkt noch zwei weitere Male an - die Filme, die bislang eine auch nur annähernd große Begeisterung bei mir auslösen konnten, kann man wohl an einer Hand abzählen.
Vielleicht kommt die Begeisterung - neben der Tatsache, dass ich generell Filme mag, die Kinder in der Hauptrolle und eine tiefgründige Handlung haben - auch daher, dass ich einen, wenn auch nur sehr losen, persönlichen Bezug zu Jason, der Hauptfigur im Film habe. Aber fangen wir von vorne an.
Wochenendrebellen erzählt die Geschichte des im Film 10-jährigen Jason. Der Film basiert auf wahren Begebenheiten: Der echte Jason ist heute 18 Jahre alt, und er ist Autist. Weil er sich nicht wie die anderen Kinder intuitiv für einen Lieblingsfußballverein entscheiden kann, gibt ihm sein Vater ein Versprechen: Sie reisen zu den Fußballstadien in Deutschland und später in ganz Europa, um alle, also wirklich alle Mannschaften einmal live zu sehen - erst dann kann und will sich Jason für einen Lieblingsverein entscheiden. Die abenteuerlichen Reisen fingen an, als Jason sechs Jahre alt war - sie dauern bis heute an! Jasons Vater fing an, die Erlebnisse in einem Online-Blog unter wochenendrebell.de auch aufzuschreiben, später erschien ein Buch. Nun wurde die Geschichte auch verfilmt, und das trotz einiger Änderungen aus dramaturgischen Gründen doch sehr realitätsnah, wofür sich der echte Jason auch sehr eingesetzt hat.
Was ist nun aber mit dem angesprochenen persönlichen Bezug? Ich kenne den echten Jason nicht persönlich, habe aber schon vor einigen Jahren mal was von seiner Geschichte mitbekommen. Jason kennt mich natürlich auch nicht, es kann aber sein, dass er mich vielleicht schon mal gesehen hat. Es ist nämlich so: 2019 zeigte der Bayerische Rundfunk die Doku Raus aus dem Glaskasten - Wie Autisten sich die Welt erobern. In der Doku werden drei Autisten vorgestellt, einer von ihnen ist der damals 14-jährige Jason, und man sieht in der Doku auch einen ihrer Besuche bei einem Bayernliga-Spiel in Dachau.
→ Raus aus dem Glaskasten - Wie Autisten sich die Welt erobern (in der ARD-Mediathek, bis 10.04.2024 verfügbar)
Ein anderer der drei Autisten in der Doku ist niemand anderes als mein bester Freund Kilian, mit dem zusammen ich viel und gern verreise, zuletzt im Frühling 2023 nach Japan - nur reisen wir eben nicht zu Fußballspielen, sondern einfach, um das Land kennenzulernen. Auslöser für unsere Reisen sind aber auch nicht irgendwelche berühmten Sehenswürdigkeiten, sondern in erster Linie persönliche Spezialinteressen: Anstoß für unsere erste Reise nach Brüssel 2013 war beispielsweise ein Foto von einer Schlumpf-Statue, das ich in einer Zeitschrift gesehen hatte und die ich unbedingt auch im Original sehen wollte. Vor Ort filmten wir die dutzenden Comic-Wandgemälde und nahmen die "normalen" Sehenswürdigkeiten wie das Atomium oder das Manneken Pis nur noch ganz am Rande mit. Aber ich schweife ein bisschen ab! Die Doku jedenfalls erzählt Kilians Werdegang zu dem Filmschaffenden, der er heute ist, und als die Sprache auf unsere Reisen kommt, welche Kilian über seinen Arbeitgeber tatsächlich ins Fernsehen bringen konnte, werde auch ich kurz erwähnt und gezeigt. Falls Jason also damals die Doku gesehen hat, in der er ja selbst vorgestellt wird, dann hat er auch mich schon mal gesehen. Ich jedenfalls bin durch die Doku dann auch auf den Film Wochenendrebellen aufmerksam geworden, denn als ich im Sommer 2023 rein zufällig den Trailer auf Youtube entdeckte, fiel mir sofort auf: "Moment mal, die Geschichte kenn' ich doch aus Kilians Doku!"
Trailer zu Wochenendrebellen:
Hinweis: Das folgende Video wird von Youtube eingebunden. Wenn Sie das Video starten, werden gewisse Daten an Google übertragen. Weitere Informationen hierzu finden Sie in der Datenschutzerklärung.
(eingebunden vom Youtube-Kanal LEONINE Studios)
Die ganze Wahrheit ist aber, dass ich auch selbst Autist bin. Das habe ich bislang immer nur sehr, sehr ungern "zugegeben", aber es wird ja auch in der angesprochenen Doku sowie in den TV-Fassungen unserer Reisefilme gesagt. Die "Geheimniskrämerei" hat ihren Ursprung vor über 20 Jahren, als ich mir in einer damaligen Anime-Community einen Online-Freundeskreis aufgebaut hatte. Da ich keine Freunde vor Ort hatte, waren mir meine Online-Freunde umso wichtiger. Deshalb hatte ich Angst, dass sie sich wieder von mir abwenden, wenn sie erfahren "Bäh, der Stephan ist ja behindert". Immerhin gibt es ja leider sogar Vollidioten, die "behindert" als Beleidigung benutzen. Nun ja, meine damaligen Online-Freunde waren Jugendliche mitten in der Pubertät, da war die Sorge vielleicht wirklich berechtigt, das kann ich jetzt mit 20 Jahren Abstand nicht mehr beurteilen. Meine heutigen Online-Freunde sind alle erwachsen und vernünftig, da muss ich mir wirklich keine Gedanken machen. Einige wissen es sowieso schon, weil ich es ihnen privat erzählt habe, und keiner von ihnen hat deswegen den Kontakt abgebrochen. Trotzdem: Festgefahrene Gewohnheiten bleiben bestehen, deshalb fiel es mir auch heute sehr, sehr schwer, diesen Absatz zu schreiben. Aber ja, ganz offiziell: Ich bin Autist!
Und deswegen kann ich auch so gut nachfühlen, wie es Jason im Film ergeht. Ich kann nachvollziehen, warum er bei harmlosen Geräuschen wie einem Schranktürknallen ängstlich zusammenzuckt - bei mir haben platzende Luftballons und bellende Hunde für ähnliche Reaktionen gesorgt. Ich verstehe sehr gut, warum es für Jason wichtig ist, immer auf dem gleichen Platz an der Bushaltestelle zu sitzen, und warum es für ihn ein unlösbares Problem darstellt, wenn die Soße die Nudeln berührt. Ähnliche Eigenheiten hatte ich damals auch: Bei einem schönen Urlaub im Bayerischen Wald vor etwa 25 Jahren habe ich im Restaurant jeden Abend das gleiche Cordon Bleu gegessen. Meine Eltern meinten es gut und haben mich eines Abends dazu überredet, mal was anderes zu probieren, was mit einem fürchterlichen Tränenausbruch endete.
Ich kann aber genauso auch nachvollziehen, dass Jason es schafft, wegen der Fußballspiele all das zu ertragen, was ihm unangenehm ist, denn auch das war bei mir ähnlich - nur waren es bei mir keine Fußballspiele, sondern Konzerte oder, noch viel banaler, einfach nur Zugfahrten in die nächste Stadt! Sehr beeindruckend finde ich übrigens die Szene im Film, als Jason und sein Vater zum ersten Mal ein Stadion betreten. Obwohl der Kontrolleur ihn durchwinken will, besteht Jason darauf, auch abgetastet zu werden, weil das die Regeln sind. Man sieht sehr deutlich, dass ihm das extrem unangenehm ist, aber er lässt es über sich ergehen, damit die Regeln eingehalten werden. Und man sieht später die Entwicklung: Als er gegen Ende des Films noch einmal abgetastet wird, ist ihm das immer noch sichtlich unangenehm, aber er verzieht das Gesicht nicht mehr annähend so sehr wie am Anfang. Das hätte ich übrigens bis vor wenigen Jahren wahrscheinlich noch nicht so erkannt, denn aus Gesichtern lesen fällt mir bis heute schwer.
Nudeln mit Tomatensoße: Wenn sie sich so berühren, stand Jason vor einem Problem! (KI-generiert)
Unterm Strich erzählt Wochenendrebellen in knapp zwei Stunden, wie Jason und sein Vater mit dieser ungewöhnlichen Reise anfangen, was Jason dadurch für eine Entwicklung durchmacht, und wie sich auch Vater und Sohn dadurch näherkommen. Es ist nicht alles 100% genauso passiert, vor allem wurde stark zusammengefasst: Was im Film als ein Jahr dargestellt wird, waren in Wahrheit sieben Jahre. Es ist aber doch so, dass so gut wie jede Szene auf einer realen Geschichte basiert - mitunter wurde zwar der Ort geändert, an dem es passiert ist, aber Jason und sein Vater zeigen sich selbst mit dem Endergebnis zufrieden, und das ist ja die Hauptsache. Auch mir hat Wochenendrebellen extrem gut gefallen. Nicht wegen des Fußballs, denn Fußballfan bin ich überhaupt nicht (und werde es auch sicher nicht, selbst wenn ich mir alle Vereine anschaue), aber man muss auch kein Fußballfan sein, um den Film zu lieben. Viel wichtiger ist, wie realitätsnah der Autismus im Film dargestellt wird, und wie gut und glaubwürdig der talentierte Jungschauspieler Cecilio Andresen das spielt - das ist wirklich eine Oscar-reife Leistung! Der reale Jason sagte in einem Interview, dass er durch die Nudelszene im Film wieder richtig sauer auf seinen Vater wurde, weil es so echt aussah: Das wirkliche Erlebnis liegt 10 Jahre zurück, aber die Emotionen sind bei ihm wieder hochgekommen.
Wie gesagt, ist Wochenendrebellen ab jetzt mein neuer absoluter Lieblingsfilm. Ich gebe hiermit eine unbedingte Anschauempfehlung! Er ist auf DVD und Blu-ray sowie auch digital erhältlich. Der Film endet, nachdem Jason und sein Vater ganz Deutschland abgegrast haben. Wer wissen will, wie es danach weitergeht, liest entweder im Blog oder im zweiten Buch der Wochenendrebellen Chaos auf Augenhöhe, das gerade erst letzten Herbst erschien. Ob es auch eine Filmfortsetzung geben wird, bleibt abzuwarten. Angekündigt ich noch nichts dergleichen - genug Geschichten, die erzählt werden können, gibt es jedenfalls noch.
Erstellt am 11.01.2021 • Letzte Änderung: 29.09.2022 • Impressum • Datenschutz • Cookie-Einstellungen • Nach oben